Was kann ich selbst tun, um besser mit der Essstörung zurechtzukommen und die Genesung zu fördern? Empfehlungen für den Umgang mit der Erkrankung geben zahlreiche Bücher oder CDs. Mittlerweile gibt es aber auch Online-Programme und Apps, die Betroffene bei der individuellen Selbsthilfe im Alltag anleiten.
Solche Unterstützungsangebote werden als digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) oder als internet- und mobilbasierte Interventionen (IMI) bezeichnet. Patientinnen und Patienten können sie online nutzen – entweder am Smartphone, über ein Tablet oder am Computer.
Apps und Internetprogramme sind kein Therapieersatz, sondern in der Regel eine Ergänzung. Sie können beispielsweise während einer laufenden Psychotherapie unterstützen. Möglich ist auch, sie zur Vor- oder Nachbereitung einer psychotherapeutischen Behandlung zu nutzen.
Wie helfen digitale Angebote?
Internetprogramme und Apps können auf vielfältige Weise bei der Krankheitsbewältigung unterstützen. Sie stellen Betroffenen verschiedenste interaktive Werkzeuge zu Verfügung, beispielsweise:
- Informationen über Essstörungen und ihre Behandlung
- Gedanken- und Stimmungstagebücher zur Verbesserung der Selbstwahrnehmung
- Protokolle zur Dokumentation von Essverhalten, Gewicht, Aktivitäten oder anderen Werten
- Übungen und Tipps zur gesunden Ernährung oder zum Umgang mit Stress
- Funktionen, die z. B. an Termine oder an die Einnahme von Medikamenten erinnern
- Warnhinweise bei Anzeichen für eine Verschlechterung des Beschwerdebilds
Die strukturierten Handreichungen sind in der Regel auf eine bestimmte Art von Essstörung ausgerichtet. Meist basieren sie auf Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie. Dies ist ein bei seelischen Erkrankungen bewährtes Verfahren der Psychotherapie.
In den Online-Kursen erlernen Betroffene Schritt für Schritt Strategien, um die Erkrankung im Alltag besser in den Griff zu bekommen. Häufig sind sie so angelegt, dass Betroffene sie alleine bearbeiten. Manche Anwendungen beziehen aber auch bewusst behandelnde psychotherapeutische Fachkräfte mit ein. Diese haben dann z. B. die Möglichkeit, Inhalte individuell nach den Bedürfnissen der Patientin oder des Patienten zusammenzustellen. Solche angeleiteten Programme sind in der Regel wirksamer als Angebote ohne fachliche Unterstützung.
Wann sind Apps & Co. sinnvoll?
Web- oder appbasierte Anwendungen sind für Menschen mit Essstörungen in vielen Situationen wertvoll. Sie dürfen jedoch nicht mit der Online-Behandlung verwechselt werden.
Bei einer Online-Behandlung können psychotherapeutische Sitzungen und andere Behandlungsaufgaben digital stattfinden. Sie dürfen allerdings nur durch qualifizierte ärztliche oder psychologische Fachkräfte erfolgen. Im Zentrum steht die persönliche und individuelle Begleitung von Patientinnen und Patienten.
Bei Selbstmanagement-Programmen geht es hingegen darum, die Gesundheitskompetenz und Eigenständigkeit Betroffener zu stärken. Dies geschieht ohne oder mit nur geringer fachlicher Begleitung. Manche Online-Anwendungen bieten Chats zum Austausch mit einem Expertenteam im Hintergrund. Dabei handelt es sich zum Teil um Beratungskräfte, die keine psychotherapeutische Ausbildung haben und lediglich psychologisch geschult sind.
Diese Form der digitalen Unterstützung kann beispielsweise eingesetzt werden:
- als Wartezeitenüberbrückung vor Beginn einer ambulanten Behandlung oder eines Klinikaufenthalts
- als Ergänzung zu einer Psychotherapie, um den Erfolg der Behandlung zu festigen
- als Maßnahme der strukturierten Nachsorge im häuslichen Umfeld zur Vermeidung von Rückfällen
Zudem gibt es mittlerweile Apps und webbasierte Anwendungen für Angehörige. Sie informieren über Essstörungen, geben Tipps zum Umgang mit der erkrankten Person oder zeigen Möglichkeiten der Selbstfürsorge auf.
Andere Online-Interventionen leisten Hilfestellung bei psychischen Erkrankungen, die im Rahmen von Essstörungen zusätzlich auftreten können (Komorbiditäten). So leiden Betroffene häufig beispielsweise auch unter Depressionen, Ängsten oder ADHS. Entsprechende Apps und Internetprogramme können dazu beitragen, Beschwerden zu lindern oder besser damit zurechtzukommen.
Wie finde ich Angebote?
Der Markt digitaler Anwendungen im Gesundheits- und Medizinbereich ist inzwischen groß und unübersichtlich. Wer ein Internetprogramm oder eine App für Essstörungen sucht, wird im Netz auf verschiedenste Angebote stoßen. Welche davon empfehlenswert sind, lässt sich ohne fachliche Kenntnisse jedoch nur schwer beurteilen.
Bei der Auswahl hochwertiger „Gesundheitshelfer“ zur Nutzung auf Mobilgeräten oder am Computer unterstützen beispielsweise folgende Hilfestellungen:
DiGA-Verzeichnis: zertifizierte Apps auf Rezept
Mittlerweile gibt es eine Reihe mobil- und webbasierter Anwendungen, die staatlich geprüft sind und von ärztlichen oder psychotherapeutischen Fachkräften verordnet werden können.
Diese sogenannten Apps auf Rezept wurden vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nach einem umfassenden Anforderungskatalog bewertet. Dabei müssen Anbieter beispielsweise nachweisen, dass die digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) sicher, stabil und nutzerfreundlich arbeitet. Voraussetzung für die Einstufung als anerkanntes Medizinprodukt ist zudem ein wissenschaftlich erwiesener Versorgungsvorteil für Patientinnen und Patienten.
Alle derzeit zugelassenen DiGA sowie ausführliche Informationen dazu finden Sie in dieser Datenbank:
DiGA-Verzeichnis (bfarm.de)
Das Verzeichnis listet zurzeit (Stand 07/2024) zwei Angebote, die sich speziell an Menschen mit einer Essstörung (Bulimie, Binge-Eating) richten. Des Weiteren umfasst es etliche Apps und Online-Programme für häufige psychische Begleiterkrankungen wie Depression, Angst- und Panikstörungen, Phobien oder Süchte.
Prüflisten: Qualitätskriterien für Online-Interventionen
Sie haben im Netz ein digitales Selbsthilfeprogramm für Menschen mit Essstörungen gefunden, das nicht im DiGA-Verzeichnis aufgeführt ist? Dann gilt es, genau hinzuschauen. Nicht jede verfügbare Online-Anwendung ist vertrauenswürdig, beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und erfüllt die geltenden Datenschutzbestimmungen.
Vor allem gemeinnützige Einrichtungen, Verbände oder Vereine mit Bezug zu Essstörungen unterstützen Betroffene oder Angehörige jedoch oft mit hochwertigen Online-Selbsthilfekursen.
Um seriöse Angebote bei psychischen Erkrankungen zu erkennen, haben führende Fachgesellschaften Checklisten erstellt. Sie helfen, internetgestützte Anwendungen auf wichtige Qualitätskriterien zu überprüfen:
- Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN): Checkliste für Online-Interventionen
- Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK): Patienten-Checkliste für Internetprogramme
Studien: Digitale Anwendungen in der Forschung
Bei medizinischen Online-Programmen sollten hohe Ansprüche an Qualität, Transparenz, Datensicherheit und Wirksamkeit gelten. Seriöse Anbieter erproben ihre Produkte daher im Rahmen von Studien. Diese werden an Hochschulen, Kliniken oder anderen neutralen Einrichtungen durchgeführt.
Manche Universitätsinstitute und Forschungsverbünde mit entsprechendem Schwerpunkt entwickeln auch selbst Apps und webbasierte Tools zur Patientenunterstützung. Zentraler Aspekt der wissenschaftlichen Arbeit ist, diese eigenen Anwendungen in der Praxis auf ihren objektiven Nutzen hin zu prüfen.
Die Teilnahme an Studien kann für Menschen mit Essstörungen ein Weg sein, digitale Selbsthilfe- oder Therapieangebote wissenschaftlich begleitet zu nutzen. Teilnehmende profitieren von den neuartigen Versorgungsmodellen und helfen zugleich mit, sie zu verbessern.
Häufig sind Forschungsprojekte auch Zielgruppen zugänglich, für die aktuell noch keine anerkannte DiGA verfügbar ist. Dies betrifft z. B. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie an Magersucht erkrankte Personen.
Die Aufnahme in wissenschaftliche Untersuchungen und ihre Laufzeit sind in der Regel zeitlich begrenzt. Manche richten sich nur an Teilnehmende aus bestimmten Regionen. Meist müssen zudem bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Eine Übersicht laufender Studien finden Sie beispielsweise hier: Deutsches Register Klinischer Studien
In Deutschland müssen Studien nicht zwingend im nationalen Register angemeldet werden. Es lohnt sich daher, auch im Internet danach zu suchen und sich gegebenenfalls direkt an zuständige Kontaktpersonen zu wenden. Bei der Suche nach geeigneten Studien können zudem behandelnde Fachkräfte unterstützen.
Checks, Datenbanken, Siegel: seriöse Gesundheits-Apps aus stores
Allein in den Kategorien Gesundheit und Medizin enthalten gängige App-Stores mittlerweile Hunderttausende digitale Anwendungen für das Smartphone. Nur ein Bruchteil davon unterliegt einer behördlichen Kontrolle.
Im Angebot sind auch frei zugängliche Apps speziell für Menschen mit Ess- oder anderen psychischen Störungen. Sie können eine Hilfe im täglichen Umgang mit der Erkrankung sein. Bei manchen ist die Nutzung jedoch mit Risiken verbunden, z. B. hinsichtlich des Datenschutzes.
Welche der Apps sind vertrauenswürdig und sicher? Folgende Fragenkataloge unterstützen Sie bei der Einschätzung von Angeboten aus App-Stores:
- Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS): Der gemeinnützige Verein bietet einen interaktiven Check zur Bewertung von Gesundheits-Apps. Das Tool können Sie hier nutzen: Checkliste für Gesundheits-Apps
- Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ): Was bei der Verwendung von Gesundheits-Apps wichtig ist, erfahren Sie in einer Patienteninformation. Zu finden ist diese hier: Patienteninformation zu Gesundheits-Apps
Mittlerweile gibt es Onlineverzeichnisse, die Gesundheits- und Medizin-Apps auf den Prüfstand stellen. Dort können Sie nach Anwendungen suchen und erfahren, was sie bieten und wie ihre Qualität aus fachlicher Sicht beurteilt wird.
- Mobile Health App Database (MHAD): Hier begutachten Forschende der Universität Ulm mobile Gesundheitsanwendungen. Bislang wurden noch keine Apps für den Bereich Essstörungen bewertet. Dies ist jedoch geplant. Auf die Datenbank können Sie hier zugreifen: MHAD – Mobile Health App Database
- kvappradar: Diese Datenbank des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) listet sämtliche Gesundheits-Apps in Stores. Sie gibt Auskunft über deren Funktionen und die Bewertung durch Nutzer sowie Fachkräfte. Das Portal finden Sie hier: Informationen zu Gesundheits-Apps
Apps können zudem Siegel erhalten, wenn sie bestimmte Standards erfüllen. Obwohl die Prüfverfahren freiwillig und qualitativ sehr unterschiedlich sind, sprechen Zertifikate häufig für die hohe Qualität einer Anwendung.
- Qualitätsplattform Gesundheits- und Medizin-Apps (HealthOn): Die Plattform bietet neben einer Übersicht mit Prüf- und Gütezeichen auch ausführliche Informationen rund um digitale Anwendungen im Gesundheitsbereich. Mehr lesen Sie hier: Siegel für Gesundheits-Apps
- Informationsportal der Stiftung Gesundheitswissen: Das Portal listet hilfreiche Instrumente zur Bewertung von Gesundheits-Apps auf und stellt einige Qualitätssiegel vor. Die Seite können Sie hier einsehen: Gesundheits-Apps – Gesund-im-Netz
Grundsätzlich gilt: Besprechen Sie sich vor der Nutzung digitaler Angebote für die Selbsthilfe zu Hause mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt oder Ihrer Psychotherapeutin oder Ihrem Psychotherapeuten. Nur Fachkräfte können sicher beurteilen, ob und welche Online-Tools im Einzelfall geeignet sind.
Bei Fragen zu Apps und webbasierten Anwendungen helfen zudem professionelle Beratungsstellen für Essstörungen weiter. Die Fachleute dort können zu verschiedenen Möglichkeiten informieren und bei der Suche nach seriösen Angeboten behilflich sein. Eine Datenbank mit Adressen von Beratungsstellen vor Ort finden Sie hier.
Wer trägt die Kosten?
Seit 2020 haben Patientinnen und Patienten in Deutschland einen gesetzlichen Anspruch auf die Versorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen. Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist, dass
- die Anwendung vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zertifiziert und im DiGA-Verzeichnis gelistet ist,
- eine ärztliche oder psychotherapeutische Diagnose des Krankheitsbilds vorliegt, für das die jeweilige DiGA vorgesehen ist (Bulimie, Binge-Eating-Störung, Depression etc.),
- keine Ausschlussgründe bestehen, die den Anwendungsrichtlinien der DiGA widersprechen (z. B. akute Suizidgefährdung, Untergewicht, Minderjährigkeit).
Sind diese Bedingungen erfüllt, können Sie sich die DiGA verordnen lassen oder die Nutzung selbst bei Ihrer Krankenkasse beantragen. Diese stellt Ihnen nach der Prüfung Ihres Leistungsanspruchs einen Code zu. Mit ihm können Sie die App auf Ihrem Smartphone oder die browserbasierte Anwendung auf der Internetseite des Herstellers freischalten. Für die Teilnahme ist meist zusätzlich die Erstellung eines passwortgeschützten Nutzerkontos erforderlich, über das Sie sich im Programm anmelden.
Ebenfalls kostenlos ist die Teilnahme an Studien zur Untersuchung von Online-Anwendungen. Meist werden Teilnehmende hier jedoch einer Test- und einer Vergleichsgruppe zugeordnet. Die Einteilung erfolgt in der Regel nach dem Zufallsprinzip. Sie haben daher selten einen Einfluss darauf. Aber auch in der Vergleichsgruppe erhalten Sie eine hochwertige Behandlung.
Die Kosten für in App-Stores erworbene mobile Anwendungen werden grundsätzlich nicht erstattet. Dasselbe gilt für zahlungspflichtige Internetprogramme, die nicht als verordnungsfähige DiGA eingestuft sind. Fragen Sie bei Interesse an einer Teilnahme dennoch bei Ihrer Krankenkasse nach. Manchmal werden die Gebühren seriöser Angebote übernommen, wenn es keine vergleichbaren Alternativen gibt. Sie benötigen dann ein ärztliches Attest, das die medizinische Notwendigkeit der Maßnahme begründet.
Eine Übersicht zum aktuellen Forschungsstand sowie zu Einsatzbereichen, Chancen und Grenzen von Online-Interventionen bei Essstörungen gibt folgendes Informationsportal: SIDA-ESS-Toolkit
Mehr über digitale Anwendungen in der psychotherapeutischen Behandlung erfahren Sie hier.