Menschen mit Essstörungen brauchen dringend fachliche Hilfe. Die Zahl verfügbarer Therapieplätze ist jedoch begrenzt. Im Schnitt beträgt beispielsweise die Wartezeit auf eine ambulante Psychotherapie fünf Monate – in manchen Regionen und bei Kindern oder Jugendlichen sogar noch länger. Bis zum Beginn einer stationären Behandlung können drei bis sechs Monate vergehen.
Durch die verzögerte Behandlung kann sich der körperliche und psychische Zustand Betroffener verschlechtern – schlimmstenfalls so sehr, dass akute Lebens- oder Suizidgefahr besteht.
In dieser schwierigen Situation sollten Erkrankte und Angehörige jede verfügbare Unterstützung nutzen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Wartezeitenüberbrückung. Manche sind vorläufige Therapieangebote, manche Selbsthilfemaßnahmen. Andere tragen dazu bei, etwas schneller die benötigte Behandlung zu bekommen.
AKUTBEHANDLUNG
In dringenden Fällen können Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Essstörungen eine sogenannte Akutbehandlung erhalten. Diese Form der Soforthilfe umfasst bis zu 24 Gesprächseinheiten à 25 Minuten.
Die psychotherapeutische Akutbehandlung ist Teil der medizinischen Grundversorgung. Dies bedeutet, dass:
- alle Menschen in Deutschland bei Bedarf Anspruch auf diese Leistungen haben
- eine Genehmigung durch die Krankenkasse nicht erforderlich ist – sie muss lediglich informiert werden und ist verpflichtet, die Kosten für die Maßnahme zu übernehmen
- für die Durchführung keine Überweisung, sondern nur eine fachliche Empfehlung benötigt wird
- ein zeitnaher Zugang zu der Maßnahme möglich sein muss – in der Regel innerhalb von zwei Wochen
Ziel einer Akutbehandlung ist es, stabilisierend auf das seelische Befinden Betroffener einzuwirken. Manchmal reicht sie als alleinige Therapie aus. Meist dient die Unterstützungsmaßnahme jedoch zur Vorbereitung auf eine reguläre Psychotherapie. Diese schließt sich im Idealfall direkt daran an.
Voraussetzung für eine Akutbehandlung ist eine Diagnose. Liegt sie noch nicht vor, ist der Besuch einer psychotherapeutische Sprechstunde verpflichtend, um Art und Schwere der Essstörung festzustellen. Kann die gewählte Fachkraft die Therapie nicht selbst übernehmen, stellt sie eine schriftliche Empfehlung aus. Sie berechtigt dazu, eine Akutbehandlung in jeder anderen qualifizierten ambulanten Einrichtung wahrzunehmen.
Vor einer Akutbehandlung müssen Betroffene sich auch in einer haus- oder fachärztlichen Praxis vorstellen. Die Untersuchungen dort dienen dazu, mögliche körperliche Ursachen von psychischen Beschwerden auszuschließen.
Bei der Suche nach Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die kurzfristig behandeln, unterstützt der kassenärztliche Terminservice. An ihn können sich Betroffene telefonisch unter der bundesweiten Rufnummer 116117 wenden. Alternativ ist es möglich, sich online Termine vermitteln zu lassen. In beiden Fällen muss der zwölfstellige Code auf dem Empfehlungsschreiben genannt werden. Mehr unter: Terminservice 116117
THERAPIEGRUPPEN
Lange Wartezeiten gibt es vor allem bei einer Psychotherapie in Einzelsitzungen. Eine mögliche Alternative sind ambulante Gruppenangebote. Hier werden drei bis neun Betroffene gleichzeitig von qualifizierten Fachkräften begleitet. Dadurch können mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen professionelle Unterstützung erhalten.
Ebenso wie die Akutbehandlung zählt die Gruppentherapie zur medizinischen Grundversorgung. Im Unterschied dazu ist jedoch keine Empfehlung durch behandelnde Fachkräfte und auch keine körperliche Voruntersuchung nötig. Gegenüber der Krankenkasse besteht weder eine Genehmigungs- noch eine Anzeigepflicht. Für die Teilnahme und Kostenübernahme muss lediglich eine ärztlich oder psychotherapeutisch bestätigte Diagnose vorliegen.
Eine Gruppentherapie als Erst- oder Überbrückungsmaßnahme ist zeitlich begrenzt – auf insgesamt 400 Minuten. Bei Angeboten, die für Kinder und Jugendliche bestimmt sind und Angehörige miteinbeziehen, sind es 500 Minuten. Die einzelnen Behandlungseinheiten dauern zwischen 50 und 100 Minuten.
Oft fällt es schwer, in Gegenwart unbekannter Personen über seelische Probleme zu sprechen. Gerade der Kontakt zu anderen Betroffenen kann aber ermutigen und Wege aus der Erkrankung aufzeigen. Zudem belegt die Forschung, dass eine Gruppentherapie genauso gut wirkt wie Einzelgespräche.
Eine Gruppentherapie kann in psychotherapeutischen Praxen mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation stattfinden. Auch an manchen Kliniken, Versorgungszentren oder Beratungsstellen für Essstörungen ist diese Versorgungsform verfügbar. Gibt es vor Ort keine Angebote, kommen eventuell digitale Therapiegruppen infrage. Sie ermöglichen es, per Videokonferenz ortsunabhängig an Behandlungssitzungen teilzunehmen.
Bei Interesse an einer gruppentherapeutischen Grundversorgung helfen behandelnde Fachkräfte weiter. Informationen zu Therapiegruppen und eine Umkreissuche finden Sie hier: Gruppenplatz
ONLINE-PSYCHOTHERAPIE
Unter Umständen kann eine psychotherapeutische Behandlung auch telemedizinisch durchgeführt werden. Eine inzwischen etablierte Möglichkeit ist die Videosprechstunde. Manchmal kann die digitale Kommunikation mit behandelnden Fachkräften ergänzend dazu auch in Form von E-Mails oder Chats erfolgen.
Eine Online-Therapie per Videocall ist ähnlich intensiv und individuell wie die Begleitung in Präsenz. Der Vorteil: Die Behandlung kann von jedem Ort aus genutzt werden. Im virtuellen Raum können sich Betroffene über weite Entfernungen mit psychotherapeutischen Fachkräften austauschen. Im Prinzip lässt sich die Suche nach einem freien Therapieplatz dadurch auf ganz Deutschland ausweiten.
Obwohl ihre Zahl stetig wächst, bieten jedoch nicht alle psychotherapeutischen Praxen Videosprechstunden an. Viele rechnen diese außerdem privat oder als Selbstzahlerleistung ab. Hinzu kommt, dass diagnostische Erstgespräche und Probesitzungen (mindestens zwei) bislang ausschließlich im persönlichen Kontakt stattfinden dürfen.
Wenn eine Online-Psychotherapie in der näheren Umgebung nicht möglich ist, lohnt sich eine Anfrage bei der zuständigen Krankenkasse. Manche haben Kooperationsverträge mit Dienstleistern, die sich auf die videobasierte Behandlung psychischer Erkrankungen spezialisiert haben. Die Anbieter vermitteln in der Regel auch zeitnahe Termine in örtlichen Praxen. Die Fachkräfte dort stellen die Diagnose, führen die Probesitzungen durch und übernehmen danach die digitale Fernbehandlung. Sie kann meist ohne weitere Wartezeit beginnen.
Bei schweren Krankheitsverläufen und akuten Krisen darf eine Psychotherapie grundsätzlich nicht online erfolgen. Bei Minderjährigen benötigen behandelnde Fachkräfte eine spezielle Qualifikation für die Begleitung von Kindern und Jugendlichen.
Gezielt nach ambulanten psychotherapeutischen Praxen suchen, die online behandeln, können Sie beispielsweise hier: Suche Online-Psychotherapie
Mehr über Möglichkeiten und Formen der Online-Psychotherapie erfahren Sie hier.
APPS AUF REZEPT
Mittlerweile sind auch spezielle Apps und Internetprogramme für Menschen mit Essstörungen verfügbar. Dabei handelt es sich um Online-Kurse, die auf anerkannten Methoden der Psychotherapie basieren. Sie leiten Betroffene im selbstständigen Umgang mit der Erkrankung im Alltag an. Einige davon sind vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte zertifiziert und können Patientinnen und Patienten bei Bedarf verordnet werden.
Solche digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind für viele Erkrankte, die auf eine Therapie warten, eine wertvolle Unterstützung. Die Programme für Smartphone, Tablet, Laptop oder PC bieten online zahlreiche Arbeits- und Hilfsmittel. Dazu zählen z. B. Informationsmodule, Stimmungstagebücher, Ernährungs- und Gewichtsprotokolle oder hilfreiche Übungen bei seelischen Belastungen.
Apps und Internetprogramme sind in der Regel kein Ersatz für eine professionelle Behandlung. Sie können jedoch vor, während oder nach einer Psychotherapie helfen, Beschwerden zu lindern oder unter Kontrolle zu halten.
Zum Selbstmanagement einer Essstörung zu Hause sind derzeit (Stand 07/2024) zwei DiGA zugelassen. Sie richten sich an von Bulimie oder Binge-Eating Betroffene. Behandelnde Fachkräfte können Patientinnen und Patienten ein Rezept für die Nutzung ausstellen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. So muss eine eindeutige Diagnose vorliegen. Nicht verordnet werden dürfen die DiGA Minderjährigen und Personen in akuten psychischen Krisen.
Ausführliche Informationen zu allen derzeit verfügbaren Apps auf Rezept lesen Sie hier: DiGA-Verzeichnis
Bei Magersucht sowie für Kinder und Jugendliche besteht diese Möglichkeit der Wartezeitenüberbrückung noch nicht. Es gibt jedoch seriöse Institutionen, die auch für diese Zielgruppen digitale Programme entwickelt haben oder im Rahmen von Forschungsprojekten zugänglich machen. Entsprechende Angebote sind im Internet zu finden. In Absprache mit behandelnden Fachkräften kann eine Teilnahme an solchen Online-Interventionen infrage kommen.
Wichtig ist, nicht zertifizierte Apps und Webanwendungen genau zu prüfen. Dabei hilft eine Checkliste der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), die Sie hier finden:
Checkliste für Online-Interventionen
Eine Erstattung zahlungspflichtiger Angebote, die nicht als DiGA anerkannt sind, ist in der Regel nicht möglich. Gibt es keine Alternativen dazu und empfehlen ärztliche oder psychotherapeutische Fachkräfte die Maßnahme, können die Kosten in Ausnahmefällen übernommen werden. Viele Krankenkassen bieten auch eigene Apps und Online-Coaches zur Unterstützung bei psychischen Beschwerden an. Sie stehen Versicherten, die die jeweiligen Nutzungsrichtlinien erfüllen, kostenlos zur Verfügung.
Mehr zu app- und webbasierten Anwendungen für die individuelle Selbsthilfe im Alltag finden Sie hier.
WEITERE HILFEN UND TIPPS
Bis zum Beginn einer ambulanten Behandlung oder der stationären Versorgung unterstützen nicht nur psychotherapeutische Übergangslösungen. Es gibt noch eine Reihe anderer Wege, sich Rat und Hilfe zu holen:
- Beratungsangebote: Gespräche mit psychologischen oder sozialpädagogischen Fachkräften können sehr entlastend sein. Sie haben Verständnis für die Probleme Betroffener, beantworten Fragen oder geben Tipps für die Suche nach freien Therapieplätzen. Mehr zu Beratungsangeboten bei Essstörungen lesen Sie hier.
- Medizinische Betreuung: Haus- oder kinderärztliche Praxen übernehmen die Behandlung körperlicher Folgen einer Essstörung. Zudem überweisen sie an Fachärztinnen und -ärzte, die bei Bedarf Medikamente zur Linderung psychischer Beschwerden verordnen können. Weitere Informationen finden Sie hier.
- Selbsthilfegruppen: Hilfreich kann in manchen Fällen auch der Austausch mit anderen Betroffenen sein. Allein die Erfahrung, mit der Erkrankung nicht allein zu sein, tut gut. Oft können Menschen in ähnlicher Situation auch praxisnahe Ratschläge für den Weg aus der Essstörung geben. Wichtiges zur Selbsthilfe erfahren Sie hier.
- Angehörige und andere Bezugspersonen: Ein soziales Netzwerk fängt auf. Gerade in schweren Zeiten zählen gute Beziehungen zu Menschen im persönlichen Umfeld. Wie die Familie, der Freundeskreis und weitere Nahestehende Betroffenen beistehen können, ist hier ausführlich nachzulesen.
- Seriöse Unterstützung im Netz: Anlaufstellen, an die sich Betroffene und Angehörige wenden können, gibt es auch im Internet. Viele vertrauenswürdige Organisationen bietet Hotlines, Chats, Foren und Informationsportale zu Essstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen. Die wichtigsten sind hier aufgelistet.
Verzögerungen lassen sich bei der Behandlung psychischer Erkrankungen oft nicht vermeiden. Trotzdem sollten Betroffene sich nicht mit monatelangen Wartezeiten abfinden. Folgende Tipps können helfen, schneller einen Therapieplatz zu bekommen:
- Nutzen Sie vielfältige Informationsquellen. Wenn Sie im Internet suchen: Praxen oder Kliniken, die ganz oben stehen, sind oft besonders lange ausgebucht. Krankenkassen stellen auf Anfrage Listen mit Einrichtungen in der Nähe zur Verfügung. Sie führen auch solche auf, die online schwer oder gar nicht zu entdecken sind. Erkundigen Sie sich auch im Bekanntenkreis. Vielleicht kennt jemand eine gute Praxis mit weniger Andrang?
- Es ist mühsam, verschiedene Einrichtungen anzurufen, und frustrierend, immer wieder eine Absage zu erhalten. Fragen Sie dennoch möglichst viele Praxen oder Kliniken an. Dies steigert die Chance, offene oder demnächst verfügbare Therapieangebote zu finden.
- Auch wenn eine Behandlung direkt am Wohnort wünschenswert ist: Vor allem in ländlichen Gegenden deckt das Angebot den Bedarf in vielen Fällen nicht. Weiten Sie die Suche dann auf nahe gelegene Orte aus, die Sie bei Bedarf auch gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen können. In Ballungszentren ist die Dichte an Versorgungsmöglichkeiten in der Regel höher.
- Lassen Sie sich bei angefragten Praxen oder Kliniken auf die Warteliste setzen. Manchmal entscheiden sich Betroffene vor Ihnen für andere Einrichtungen. Therapieplätze werden dann schneller frei als gedacht und Sie können über die von Ihnen angegebene Telefonnummer oder E-Mail-Adresse verständigt werden.
- Wenn Sie gesetzlich versichert sind: Dokumentieren Sie, welche psychotherapeutischen Praxen mit Kassenzulassung Sie kontaktiert haben. So können Sie belegen, dass Sie sich dort vergeblich um einen Therapieplatz bemüht haben. Manche Krankenkassen genehmigen und bezahlen dann auch eine Behandlung in Privatpraxen, die mit dem sogenannten Kostenerstattungsverfahren arbeiten.