Wenn Menschen ein problematisches Essverhalten entwickeln, gibt es dafür nicht den einen Grund. Es spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle. Grundsätzlich gilt: Ursachen sind Einflüsse, die die individuelle Neigung einer Person zu einer Essstörung mitbestimmen. Bei Auslösern handelt es sich hingegen um Bedingungen, die letztlich zum Ausbruch der Erkrankung führen. Nicht immer lassen sich Ursachen und Auslöser klar voneinander trennen.
Welche Einflüsse im Einzelfall bedeutsam sind, kann sehr unterschiedlich sein. Sie herauszufinden bedeutet nicht, einen Verantwortlichen für die Erkrankung finden zu wollen. Denn Schuld an ihr hat niemand. Um die Entstehung der Krankheit besser zu verstehen, hilft es, die Auslöser und Ursachen zu kennen. Auch wenn viele davon letztlich nicht veränderbar sind: Ziel ist es, beeinflussbare Faktoren zu identifizieren und in der Therapie positiv zu verändern.
Biologische Ursachen
Inzwischen sind sich die Experten einig, dass bestimmte biologische Einflüsse die Entstehung einer Essstörung begünstigen können. Dazu gehören zum Beispiel genetische Faktoren ebenso wie Veränderungen im Bereich der Hormone oder Botenstoffe. Auch körperliche Einflüsse können eine Rolle spielen.
Genetische Veranlagung
Essstörungen treten in manchen Familien gehäuft auf. Für einen Einfluss von Genen spricht: Leidet beispielsweise ein eineiiger Zwilling unter Magersucht, entwickelt in knapp zwei von drei Fällen der andere Zwilling auch diese Essstörung. Dies bedeutet allerdings nicht, dass jedes Kind zwangsläufig an einer Essstörung erkrankt, wenn Verwandte davon betroffen sind. Eine genetische Veranlagung kommt erst zum Tragen, wenn weitere Faktoren hinzukommen, beispielsweise hormonelle Änderungen oder besondere Lebensereignisse.
Zudem gilt: Verantwortlich für die Entwicklung einer Essstörung ist kein einzelnes Gen. Welche Gene eine Rolle spielen und wie sie zusammenwirken, ist im Detail noch nicht geklärt. Es werden mehrere Wege vermutet, über die genetische Faktoren das Risiko für eine Essstörung verstärken können. So beeinflussen Gene beispielsweise den Hormonstoffwechsel und die Aktivität der Botenstoffe im Gehirn. Auch die Ausbildung verschiedener Persönlichkeitsmerkmale, die die Entstehung einer Essstörung begünstigen, wird durch die genetische Ausstattung eines Menschen mitbestimmt.
Hormone und Nervenbotenstoffe
Ghrelin ist ein Hormon, das im Gehirn das Hunger- und Sättigungsgefühl reguliert. Wird wenig gegessen, steigt die Menge des Hormons im Blut. Dies löst das Gefühl von Hunger aus. Auch Menschen mit einer Magersucht zeigen bei zu geringer Nahrungsaufnahme erhöhte Ghrelinspiegel. Allerdings scheinen Betroffene die Wirkung des Hormons nicht zu spüren. Zu den Ursachen für diese „Unempfindlichkeit“ wird derzeit noch geforscht.
Weiterhin gelten Geschlechtshormone als bedeutsame Einflussfaktoren. Beobachtungen bei Zwillingen zeigen: Die Menge an Testosteron im Fruchtwasser nimmt Einfluss auf die Gehirnentwicklung des Kindes und auf sein späteres Essverhalten. Offensichtlich wirkt Testosteron schützend im Hinblick auf die Anfälligkeit für Essstörungen. Das weibliche Geschlechtshormon Östrogen dagegen wird mit einer verringerten Nahrungsaufnahme verknüpft. Diese Forschungsergebnisse würden erklären, warum besonders Mädchen und Frauen von Magersucht betroffen sind und diese Essstörung oft mit dem Östrogenanstieg in der Pubertät einsetzt.
Essstörungen lassen sich auch in Verbindung bringen mit Botenstoffen der Nervenzellen. Beispielsweise erhöht eine zucker- oder fettreiche Mahlzeit die Menge des „Glückshormons“ Serotonin im Gehirn. Fasten dagegen senkt den Serotoninspiegel. Allerdings macht Hungern nach einigen Tagen die Empfangsstellen für den Botenstoff empfindlicher, so dass Serotonin besser wirkt.
Diese komplexe Regulation erklärt, warum sowohl Essattacken als auch längeres Fasten einem Serotoninmangel im Gehirn entgegenwirken können. Ob betroffene Menschen eine Essstörung entwickeln und welche, scheint unter anderem auch eine Frage der Persönlichkeit zu sein. So neigen impulsive Menschen offenbar eher zu einer Bulimie oder Binge-Eating-Störung mit Essattacken. Bei sehr disziplinierten Menschen spielt dagegen die euphorisierende Wirkung von Serotonin beim Fasten eine größere Rolle – sie sind dadurch empfänglicher für eine Magersucht. Wie es zu Veränderungen des Serotoninstoffwechsels im Gehirn kommt und welchen Einfluss sie auf die Entstehung von Essstörungen haben, ist aktuell noch Gegenstand der Forschung. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass häufiges Diäthalten in frühen Jahren ein möglicher Risikofaktor dafür ist.
Körperliche Faktoren
Auch das Geschlecht, Alter und Körpergewicht können die Entstehung von Essstörungen beeinflussen. Einzelne Faktoren allein lassen jedoch keine Essstörungen vorhersagen. Es treffen in der Regel mehrere Faktoren zusammen. Zudem kommen weitere, bereits genannte Einflüsse hinzu: So sind beispielsweise die Hormone abhängig von Geschlecht und Alter. Beim Faktor Körpergewicht vermischen sich manchmal Ursache und Auswirkung. So kann Übergewicht das Risiko für eine Bulimie oder Binge-Eating-Störung erhöhen, aber auch die Folge der Essanfälle sein, die für diese Essstörungen typisch sind.
Individuelle Ursachen
Jeder Mensch ist anders. Ob jemand an einer Essstörung erkrankt, hängt unter anderem von der eigenen Wesensart und von prägenden Erfahrungen in der persönlichen Lebensgeschichte ab.
Persönlichkeitsmerkmale
Die Persönlichkeit eines Menschen ist zum Teil angeboren, zum anderen Teil geprägt von Erziehung, Vorbildern und eigenen Erfahrungen. Manche Charaktereigenschaften werden als Risikofaktor für Essstörungen angesehen. Dies betrifft unter anderem Menschen mit einem sehr hohen Leistungsanspruch an sich selbst – sei es in der Schule, beim Sport oder im Umgang mit anderen Menschen. Wer extrem ehrgeizig ist und bei allem perfekt sein will, steht oft unter hohem Druck. Belastet dieser Stress oder kommen Konflikte hinzu, können Überforderung und Selbstzweifel die Folge sein. Dies kann die Entwicklung einer Essstörung begünstigen.
Traumatische Erfahrungen
Nicht selten basieren Essstörungen auf traumatischen Erlebnissen. Viele Betroffene haben körperliche oder seelische Extremerfahrungen gemacht. Dazu zählen beispielsweise Vernachlässigung in der Kindheit, der Verlust enger Bezugspersonen, Mobbing oder sexueller Missbrauch. Die Regulierung des Essverhaltens kann dann als eine Versuch verstanden werden, überwältigende Empfindungen wie Demütigung oder Ohnmacht zu beherrschen. Der „Sieg“ über den eigenen Körper und seine Bedürfnisse gibt das Gefühl, zumindest einen Teil des Lebens unter Kontrolle zu haben.
Soziokulturelle Ursachen
Momentan vorherrschende, extreme Schönheitsideale, starre gesellschaftliche Regeln, raue Umgangsformen unter Gleichaltrigen: Viele kulturelle und soziale Aspekte prägen gerade bei Heranwachsenden die eigene Körperwahrnehmung und spielen damit auch eine Rolle bei der Entwicklung von Essstörungen. Nicht bei allen ist der Einfluss gesellschaftlicher Normen gleich stark. Er hat zum Beispiel bei der Entstehung einer Bulimie einen höheren Stellenwert als bei der Entwicklung einer Magersucht.
Das vorherschende Schönheitsideal
Das extrem schlanke Schönheitsideal in westlichen Industrienationen, wie es derzeit etwa in der Werbung, Model-Casting-Shows und sozialen Netzwerken gezeigt wird, steigert bei Heranwachsenden oft die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und Leben. Eine Studie des Internationalen Zentralinstituts für Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) zur Casting-Serie „Germany's next Topmodel“ kam zu dem Ergebnis: Die Model-Show erhöht bei Heranwachsenden die Gefahr einer Essstörung. Der Vergleich mit unrealistischen Schönheitsmaßstäben trägt dazu bei, dass sich auch normalgewichtige Menschen als übergewichtig, zu wenig muskulös oder „nicht passend“ erleben.
Dabei hat sich im Laufe der Zeit das Schönheitsideal immer wieder verändert. Während in der Antike Dicksein verachtet wurde, waren dagegen im Mittelalter bis zur frühen Neuzeit im 17. Jahrhundert üppige Körperformen in Mode. Männliche Körperfülle bedeutete Reichtum, Macht und Prestige. In vielen Kulturen galt weibliche Fettleibigkeit als Zeichen für Schönheit und Fruchtbarkeit.
Auf Facebook, YouTube, TikTok, Instagram & Co. sind Themen wie Aussehen, Schönheit, Fitness oder Körpergewicht ständig präsent. Viele Nutzerinnen und Nutzer folgen täglich Influencerinnen und Influencern, die in ihren Beiträgen, Posts und Fotos vermeintlich erstrebenswerte Schlankheits- und Schönheitsideale darstellen. Diese Selbstinszenierung erfolgt kaum noch ohne „Aufhübschen“: Inzwischen reicht es nicht mehr, auf den richtigen Kamerawinkel zu achten. Software-Programme oder Filter optimieren das eigene Aussehen auf verblüffende Art. Eine Gefahr darin liegt, die digitale Welt als real anzusehen und sich selbst „ungeschminkt“ als nicht der Norm entsprechend, unattraktiv und minderwertig zu betrachten.
Der Wunsch, einen „perfekten“ Körper zu besitzen, führt nicht automatisch in eine Essstörung. Doch Menschen, die mit ihrer Figur unzufrieden sind, ein geringes Selbstwertgefühl haben und über die sozialen Medien in dieser Ansicht bestärkt werden, können gefährdet sein. Wenn die Selbstoptimierung zum Zwang wird, kann sich eine Essstörung entwickeln.
Dabei sind soziale Medien nicht grundsätzlich nur negativ zu bewerten. Sie können helfen, eine Essstörung zu überwinden, indem sich Betroffene gegenseitig stärken. Auch Influencerinnen und Influencer sind für viele eine Stütze, wenn sie ihre Erfahrungen im Umgang mit der eigene Essstörung teilen. Die Body-Positivity-Bewegung ist ein weiteres Beispiel. Sie möchte Menschen dabei unterstützen, sich selbst so zu akzeptieren, wie sie sind.
Download Themenblatt Soziale Medien
Herausgeber: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Clique und Freundeskreis
Natürlich trifft man sich auch in der realen Welt: Der stete Vergleich unter Gleichaltrigen, negative Kommentare hinsichtlich Figur und Aussehen bis hin zum Mobbing beeinträchtigen häufig das Selbstwertgefühl. Dies kann auch das eigene Körperbild negativ beeinflussen. Wer zudem unsicher ist im Umgang mit anderen Menschen oder scheinbar perfekten Vorbildern nacheifert, hat ebenfalls ein höheres Risiko für eine Essstörung.